025 Zauber der Gelassenheit

Gelassenheit – die Kunst, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen

Der Versuch einer Definition

Du wirst sicher bemerkt haben, dass die Definition im Intro gar keine richtige Definition war, denn hier haben wir nur aufgeführt, was „Gelassenheit“ nicht beinhaltet. Du ahnst es schon, eine punktgenaue Erklärung dieses Begriffs ist nicht so einfach. Interessant ist, dass es in keiner anderen Sprache ein Synonym gibt, das eine ähnlich komplexe Bedeutung hat.

In der deutschen Sprache steht der Begriff laut dem Literaturwissenschaftler Thomas Strässle für einen aktiven und einen passiven Part, nämlich „lassen“ und „gelassen werden“, also was lassen wir und was lässt uns im Zustand der Gelassenheit. Er spricht weiterhin davon, dass Gelassenheit im heutigen Kontext am ehesten die Balance zwischen Involviertheit und Distanziertheit meint und über Jahrhunderte hinweg ein Wunschzustand des Menschen ist.

Diese Sehnsucht ist also nicht neu! Schon der römische Philosoph der Antike Seneca hat sich damit beschäftigt, was die „Gemütsruhe“ ausmacht und die Frage gestellt „Wie man der Seele zu einem gleichmäßigen, heilsamen Gange verhelfen kann, sodass sie in besten Einvernehmen mit sich steht“. Und er beantwortet sie auch gleich: „Gelassen ist, wer ganz in Übereinstimmung mit sich selbst lebt – seinen Werten und Wünschen. Gelassenheit und innere Ruhe finden wir nur, wenn wir Wohlgefallen an uns selbst finden.“

Selbstliebe

Philosophin Ina Schmidt: „Gelassenheit im Sinne der abendländischen Philosophie hat nichts mit narzistischer Nabelschau zu tun, sondern meint eine soziale Tugend - eine innere Haltung, die sich auf einen selbst und auf andere bezieht.“

Gelassenheit berücksichtigt also den Zusammenhang zwischen eigenem Erleben und möglichen Auswirkungen auf das soziale Umfeld: Was bewirken meine Emotionen? Was bedeuten meine Ansprüche für meine Mitmenschen? Welchen Erwartungen anderer kann ich widersprechen, welchen will ich entsprechen?

Merkmale gelassener Menschen

Hilfreich ist es also, sich selbst so gut zu kennen, dass wir unseren Fähigkeiten, Möglichkeiten und Wünschen entsprechend entscheiden und handeln können. Wir sollten uns im Klaren sein, welchen Prinzipien wir folgen wollen und welche Werte uns hierbei leiten sollen. Mit uns in liebevollem Einklang zu sein und mit dem, was wir für richtig erachten, ist also die Basis dafür, souverän und selbstbestimmt zu bleiben und so zu handeln wie es unserem Wesen entspricht.

Kommt dir das bekannt vor? In unserem Beitrag zur „Authentizität“ haben wir dir einen Brückenschlag zum Thema Gelassenheit versprochen – hier ist er nun! Denn Einigkeit besteht bei den Wissenschaftlern darin: Wer authentisch ist, ist leichter gelassen, denn er verkörpert unter anderem Selbstliebe und Selbstachtung im Einklang mit sich selbst. Wer mit sich selbst einen liebevollen Umgang pflegt wird auch mit seinem Umfeld eher nachsichtig und liebevoll sein.

Der Psychologe und Stressexperte Louis Lewitan nennt Merkmale, die eine gelassene Haltung fördern. Neben Kritikverträglichkeit, Frustrationstoleranz und weiteren sind dies vor allem Offenheit, Humor, Selbstwirksamkeit, Selbstwertschätzung, Zielorientierung und Authentizität. Begriffe also, die wir ebenfalls aus der Resilienz-Lehre kennen.
(s. unsere Blogbeiträge 023 Humor, 022 Authentizität, 014 Selbstfürsorge, 008 Selbstwirksamkeit).

Auch der Philosoph Prof. Dr. Wilhelm Schmid nennt die Balance zwischen Wertschätzung von Gewohnheiten und Offenheit für Neues eine gute Basis für Gelassenheit. Gewohnheiten geben uns die Möglichkeit, nicht ständig neu entscheiden zu müssen und unsere Energie so für wichtige Dinge zu bewahren. Offenheit ermöglicht uns Flexibilität, die uns hilft, auf die Gegensätze im Leben unverkrampft zu reagieren.

Balance

„Das Leben bewegt sich zwischen Gegensätzen, die (ganzheitlich) auszubalancieren sind. Körperlich, seelisch und geistig.“ Auf der einen Seite unsere Körper und sinnliche Erfahrungen und auf der anderen Seite Einschränkungen und Verfall. Auch Gefühle sind nicht konstant: Sie können schwanken zwischen Freude und tiefer Trauer, Sicherheit und Unsicherheit, Wohligkeit und Unwohlsein ..., und auf geistiger Ebene nehmen freundliche Gedanken genauso Raum ein wie negative und destruktive Gedanken. Annehmen und akzeptieren, dass es diese „Sonnen- und Schattenseiten“ gibt, macht es uns leichter, Balance (Gelassenheit) zu finden; es macht unser Leben leichter.

Loslassen – Ge(hen) lassen

Gelassenheit wird häufig im Kontext mit loslassen erwähnt – Dinge loslassen, die uns belasten, die uns einschränken und blockieren. Die Philosophin Ina Schmidt weist darauf hin, dass es oft aber nicht die Dinge sind, die uns um unsere Gelassenheit bringen, sondern unsere eigenen Erwartungen oder die Erwartungen, die andere an uns stellen. Häufig haben wir Vorstellungen, wie Situationen verlaufen sollten. Treten sie dann nicht so ein, sind wir enttäuscht und unzufrieden. Die Kunst liegt also darin, die Situationen so anzunehmen - zu akzeptieren-, wie sie gerade sind und sich die Offenheit für Anpassungen zu bewahren. Nörgelei, wie es doch viel schöner wäre, bringt uns nicht weiter, sondern blockiert uns nur im Genuss des Jetzt.

Überprüfe doch einmal deine Erwartungen – an Situationen, Beziehungen, an dich selbst und schau, welche Macht du diesen Erwartungen und den Ansprüchen von anderen an dich gibst. Gelingt es uns nicht, bei uns zu bleiben, besteht die Gefahr, dass wir überfordert den Bezug zu uns verlieren und orientierungslos werden - und erreichen so nur das Gegenteil von Gelassenheit. Das Leben wird leichter, wenn wir nicht erwarten, dass es leicht sein muss!

Leichtigkeit

Reflexion Gelassenheit

Fragen, die du dir in bzw. in der Reflexion von Situationen, in denen du nicht gelassen warst, stellen kannst:

  • Was passiert gerade mit mir?
  • Warum ist es mir so wichtig …?
  • Warum erwarte ich z. B. Perfektionismus? Wie realistisch ist meine Erwartung?
  • Wie angemessen sind die Gefühle (z. B. Wut), die sich mir gerade zeigen?
  • Welches Bedürfnis ist nicht befriedigt (z. B. Kontrolle)?

Mache dir klar, was du gerade fühlst und ob diese Gefühle zur Situation passen.
Wenn du zu dem Schluss kommst, dass deine Gefühle angemessen und berechtigt sind, kannst du lösungsorientiert überlegen, wie du angemessen auf dein Gefühl reagieren willst.

Uns selbst nicht so wichtig nehmen!

Meinen Lieblings-Tipp für mehr Gelassenheit gibt uns der Philosoph Dr. Schmidt-Salomon: „Wir sollten uns selbst nicht so wichtig nehmen!“ Diese Haltung bringt uns innere Unabhängigkeit, macht uns freier von dem stressigen Einfluss, was andere von uns denken. Für Schmidt Salomon gehört hierzu auch unsere Einordnung in den großen Gesamt-Kontext, indem er uns erinnert, dass wir nicht über den Naturgesetzen stehen. „Von uns selbst lassen, führt zu einem gelasseneren Selbst.“

Hilfreich ist auch hierbei wieder unser Humor. Humor ist laut Schmidt-Salomon eine Lebenseinstellung die das Unperfekte hochleben lässt. „Es hat Charme und hilft im Leben voranzukommen, die Welt mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu betrachten.“

Auch Seneca hatte das bereits erkannt: „Eine heitere Gelassenheit, ein humorvoller Blick auf unser Leben und die Ereignisse bringt uns in eine andere Perspektive und lässt uns uns selbst nicht so wichtig nehmen.“

Fragt man Menschen, an welchen Orten sie „ganz bei sich sind“, kommen häufig Antworten, die unsere Bedeutung im „großen Ganzen“ spürbar machen:

  • ein Besuch im Meeresmuseum, die Ruhe genießen und dem mächtigen Blauwal in die Augen schauen – das rückt einiges zurecht
  • die Energie der mächtigen Berge frühmorgens beim Sonnenaufgang oder spätabends beim Funkeln der Sterne spüren
  • ein Besuch des Planetariums und die Wahrnehmung der „Unendlichkeit“
  • auch Friedhöfe werden genannt, mit steinalten aber auch ganz jungen Gräbern, die eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart herstellen
  • und schließlich der Aufenthalt in unseren Wäldern, der Spaziergang, der Kontakt zu einem Baum, dem Gras – ganz modern dem „Baden im Wald“

Aquarium

Der Charme dieser Begegnungen ist die Demut, die sich dann häufig einstellt – und Demut definiert der Philosoph als die höchste Form der Gelassenheit.

Auch Dankbarkeit fördert unsere Demut, denn sie verstärkt unsere Wahrnehmung und die Einordnung von Ereignissen. Ich lade dich ein, jetzt einmal zu überlegen:

  • 3 „Dinge“, für die du in deinem Leben dankbar bist
  • 2 „Dinge“, für die du heute dankbar bist
  • 1 „Ding“, für das du jetzt gerade dankbar bist

Uns selbst nicht so wichtig zu nehmen verstärkt noch ein anderes Gefühl: Unsere Zufriedenheit. Und auch die Zufriedenheit gilt als gute Voraussetzung für eine gelassene Haltung; sie vermittelt uns innere Ruhe.

Zufriedenheit und Gelassenheit

  • Unterscheidung von Glück und Zufriedenheit
    Sprechen wir von Glück, sind häufig die rauschhaften Momente gemeint; Zufriedenheit ist das nachhaltigere Gefühl, das uns auch den kleinen, positiven Dingen des Alltags Beachtung schenken lässt – auch hier kann Dankbarkeit und Demut wieder eine Rolle spielen. Zufriedenheit ist eine Emotion, in die Gedanken, Einstellungen, Bewertungen aller Lebensereignisse, Erfahrungen und Errungenschaften einfließen. Zufriedenheit ist weitaus stärker von kognitiven Prozessen steuerbar und damit beeinflussbarer als ein flüchtiges Glücks-Hochgefühl.

  • Einfluss der Persönlichkeit
    Unsere Persönlichkeit lenkt unter anderem unsere Wahrnehmung positiver und negativer Ereignisse. Manche Menschen tendieren dazu, eher die positiven Ereignisse besonders intensiv wahrzunehmen und legen damit die Basis für eine zufriedenere Einstellung.

  • Herausforderungen des Lebens
    Die Zufriedenheitskurve ist flexibel und kann durch einschneidende Erlebnisse in ihrem Verlauf beeinflusst werden. Eine Schlüsselaufgabe sehen Forscher auf dem Weg zu mehr Zufriedenheit darin, möglichst stabile und vielfältige Beziehungen zu unserem Mitmenschen zu knüpfen. Eine gute soziale Einbindung ist eine hervorragende Grundlage für tiefe Zufriedenheit. (s. Blog 017 Netzwerken)

  • Umgang mit Erwartungen und Enttäuschungen
    Ein realistischer Blick auf sowie ein flexibler Umgang mit unseren gesteckten (Lebens-) Zielen und den damit verbundenen Erwartungen ist hilfreich. Hier nochmal einige Reflexionsfragen, die sich weniger auf eine spezielle Situation beziehen, sondern auf deine Lebensziele: Wie eng liegen Anspruch und Wirklichkeit beieinander? Gibt es eventuell gute Gründe, die Erwartungen anzupassen oder gar ganz loszulassen? Das Festhalten an unrealistischen Erwartungen kann unsere positive Einstellung zum Leben blockieren.

Daher ist es ratsam, sich von Zeit zu Zeit zu reflektieren:

    • Welches Ziel ist evtl. zu hoch gesteckt?
    • Welche eigenen Versäumnisse und Grenzen sind gegeben?
    • Welche alten Träume sind vielleicht gar nicht mehr zeitgemäß, haben sich durch meine Entwicklung überholt, sodass ich sie leicht loslassen kann?
    • Woran und an wem will ich mich wirklich messen?
    • Was ist bedeutsam für mich im Leben?
    • Wo lohnt sich mehr Einsatz und wo mehr Gelassenheit mit meinen Ansprüchen und Erwartungen?

Eine ehrliche Bestandsaufnahme gibt uns die Chance, gelassener auf unser Leben zu schauen und Enttäuschungen zu vermeiden bzw. ihnen nicht zu allzu viel Raum zu geben. Gerade in einer Zeit, in der uns die sozialen Medien Perfektionismus und einfach umgesetzte Selbstoptimierung vorgaukeln, ist dies sicher keine einfache Übung – aber durchaus machbar und lohnenswert!

Zufriedenheit baut auf eine Fokussierung auf das Wesentliche und nicht auf die blinde Verfolgung von Zielen und Effizienzsteigerung. Und bei der Erkenntnis, was wesentlich für mich ist, schließt sich wieder der Kreis zur Bedeutung der Authentizität ;-) Auch Friedrich Nitsche ist hier ganz bei uns: „Gelassenheit setzt voraus, dass man sich selber Werte setzen kann. Werte, die man nicht von anderen übernimmt, sondern die man selber gesetzt hat.“

Grenzen

Grenzen der Gelassenheit

Natürlich haben auch gelassene Menschen ihre Grenzen und sind – ähnlich wie in der Nutzung ihrer Resilienz-Kompetenz – nicht in allen Situationen gleich gelassen. Ja, es gibt Situationen wie z.B. existenzielle Bedrohungen, in denen der Begriff Gelassenheit unpassend wäre, in denen wir nicht in der Lage sind, gelassen zu sein. Dann können vielleicht Resilienz-Faktoren wie Hoffnung und Zuversicht (Optimismus) an diese Stelle treten und in der Zukunft wieder einen gelasseneren Zustand ermöglichen.

Philosophin Ina Schmidt: „Gelassenheit lässt sich nicht erzwingen, sie ist eine Haltung, eine besondere Sicht auf die Welt.“

Und ähnlich wie unsere Resilienz können wir diese Haltung durch einen reflektierten Umgang mit uns, unserem Umfeld und unserer Umwelt trainieren.

Hier noch ein paar abschließende Fragen für deine abendliche Reflexions-Praxis, wenn du deinen Tag Revue passieren lässt:

  • Wann wäre ich heute gerne gelassener gewesen?
  • Welche Emotionen waren im Spiel?
  • Was waren meine Ansprüche?
  • Welche Haltung/Denkweise wäre hilfreich gewesen?

Ich wünsche dir viel Erfolg hierbei – und solltest du ein kleiner Perfektionist sein, darfst du dich auf unseren nächsten Blogbeitrag freuen, der ist speziell für dich. Damit du auch als Perfektionist:in zu einem gelasseneren Lebensstil findest ;-)

Astrid

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# Blog 25 Zauber der Gelassenheit

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Bildnachweis pixabay: Charles Jennings, Gerd Altmann, Dimitris Vetsikas, Alexa, StockSnap, Petra

Quellen: Deutschlandfunk, Thomas Strässle im Gespräch mit Dina Netz | 09.05.2013, SWR2 „Stoiker-Philosophie der Gelassenheit“, Geo Wissen Nr.67, BR Radio Wissen 02.23

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